WOYCZEK

Ein Dramenfragment als Gesellschaftskritik

Junges Theater Göttingen eröffnet Theatersaison des Kulturvereins mit großartiger Vorstellung

Von Annika Heuser

Soldat Woyczek (Mitte) zwischen den Fronten: Arzt und Hauptmann. (c) Manfred Günther

Wie viel Herabwürdigungen kann ein Mensch ertragen, bevor er den Verstand verliert? Der wahre Fall eines Mannes, der während einer Psychose eine Frau ermordete, faszinierte den Medizinstudenten Georg Büchner derartig, dass er ihn zur Grundlage seines Stückes „Woyzeck“ machte. Der fragmentarische Text gilt als das erste bedeutende soziale Drama in der deutschen Literatur. Als Hauptperson fungiert dabei nicht mehr der idealistische Held, sondern der sozial abgewertete, von seinem Milieu bestimmte Mensch.

Die Inszenierung von Tobias Sosinka und Christian Vilmar vom Jungen Theater Göttingen ist – wie jede Aufführung des Stücks – eine Rekonstruktion. Büchner konnte das Drama vor seinem Tod im Alter von nur 23 Jahren nicht vollenden; auch, welche Szenenabfolge er im Sinn hatte, kann nicht letztgültig nachvollzogen werden.

Dem Holzmindener Publikum zeigte sich am vergangenen Donnerstag in der fast ausverkauften Stadthalle ein zu großer Spielfreude aufgelegtes Ensemble des Jungen Theater Göttingen. Michael Johannes Mayer brillierte in der titelgebenden Rolle des einfachen Fußsoldaten Woyzeck, der zunehmend verzweifelt versucht, seiner Freundin Marie und ihrem gemeinsamen unehelichen Sohn Christian mithilfe seines Solds und zusätzlicher Gelegenheitsarbeiten ein annehmbares Leben zu finanzieren. Psychisch und physisch von Vorgesetzten ausgenutzt, ist er nicht in Stande, sich gegen die Ungerechtigkeiten zu wehren, die ihm widerfahren. Er hetzt „wie ein Rasiermesser“ durch sein Leben und findet kaum noch Zeit für seine Familie.

Bedingt durch eine vom Doktor (Dorothea Röger) verordnete dreimonatige „Erbsendiät“ entwickelt Woyzeck Wahnvorstellungen, die er dem Mediziner beschreibt. Dessen Reaktion offenbart seine menschenverachtende Natur. Er ist kein Arzt, der Patienten helfen möchte, sondern ein eiskalter Wissenschaftler, der Woyzeck ausschließlich als Forschungsobjekt sieht und sich, statt ihm zu helfen, an seinem schlechten Gesundheitszustand erfreut und diesen fördert.

Woyczek (Michael Johannes Mayer) konfrontiert Marie (Fabienne Elisabeth Baumann). (c) Manfred Günther

Sein militärischer Vorgesetzter, der „Hauptmann“ (verkörpert von Jan Reinartz), hält gerne Vorträge über die fehlende Moral seines Untergebenen und informiert ihn schließlich über die Affäre seiner Partnerin mit einem Tambourmajor (Jens Tramsen). Der arrogante, sich meist der Vulgärsprache bedienende Anführer der Militärkapelle beeindruckt Marie mit seinem Aussehen, seiner sozialen Stellung und seinem Vermögen. Fabienne Elisabeth Baumann spielte eine sehr überzeugende Marie, die unter der finanziellen Situation und ihrer Zugehörigkeit zur Unterschicht leidet und sich häufig der Kritik der rechtschaffenden Nachbarin Magreth (Agnes Giese) ausgesetzt sieht. Ihre Gedanken und Gefühle verarbeitet sie in Einschlafliedern für ihren Sohn.

Der einzige, der Woyzeck weder betrügt noch ausnutzt, ist sein stets gut gelaunter, singender Kamerad Andres (Tobias Schaaf), der ihm zwar helfen möchte, aber nicht weiß, wie er auf den Wahn seines Freundes reagieren soll und letztlich nur zu Alkohol und Frauen zur Kompensation raten kann.

Nur die zaunartig aufgestellten Bohlen der Requisite begrenzten die Schauspieler bei ihrer Nutzung des gesamten Bühnenraumes. Wechselnde Aushänge führten den Zuschauern die unterschiedlichen Orte (Zirkus, Arztpraxis) vor Augen und zwei Podeste wurden wahlweise zum Bett, Tanzboden oder Versteck für eine Leiche.

Verdienter Applaus: Das Ensemble des Jungen Theater Göttingen am Ende der Veranstaltung. (c) Manfred Günther

Büchner lässt seinen Woyzeck immer wieder unbewusst Kritik an der Gesellschaft üben („Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein.“) und am Ende erkennen: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Die Anspielung auf die dunklen Seiten des Menschen und dessen Neigungen zu Gewalt und Zerstörung ist heute noch genauso aktuell wie zu Zeiten des Autors.

Im Mord an Marie entladen sich Woyzecks Gefühle und lassen ihn zunächst heiter und fröhlich zurück, bis die Schuld mit aller Macht in ihn dringt und sich schlussendlich sogar sein Sohn als letzter verbliebener Sozialkontakt von ihm abwendet.